Wenn das System an seine Grenzen stösst

Podiumsdiskussion «Kindermedizin am Limit» zeigt: Strukturelle Unterfinanzierung gefährdet beste medizinische Versorgung

Jorin ist viereinhalb Jahre alt. Der Schalk in seinem Blick verrät, dass er ein besonderer Junge ist – ein selbstbewusster Bub, der Fahrrad fährt und Unihockey spielt. Meistens verdeckt ein Lätzchen sein Tracheostoma, die Öffnung in seiner Luftröhre, die ihn am Leben hält. Er kam 2021 in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt, wog 590 Gramm, war 30 Zentimeter gross. Seine Geschichte hätte eine ganz traurige, sehr kurze sein können. Dass sie heute weitergeschrieben wird, ist ein medizinisches Wunder – und gleichzeitig ein Weckruf.

Am internationalen Tag des Kindes versammelten sich Fachpersonen, Politikerinnen und betroffene Eltern im LOEB Classroom zur Podiumsdiskussion «Kindermedizin am Limit». Jorins Eltern berichteten von ihrer Geschichte, die stellvertretend für Hunderte Kinder mit komplexen Erkrankungen steht – Kinder, die nur dank des aussergewöhnlichen Engagements ihrer Behandlungsteams überleben. Doch wie lange kann ein System funktionieren, das auf einer dauerhaft aussergewöhnlichen Mehrbelastung basiert?

«Die Umsetzung verläuft schleppend»

Ständerätin Flavia Wasserfallen (SP) eröffnete den Abend mit einer ernüchternden Bilanz: Die Umsetzung von Reformen für die Kindermedizin verlaufe schleppend. Viel zu schleppend. Ihre Worte warfen ein Schlaglicht auf eine Branche, die zwar politisch Anerkennung erfährt, deren strukturelle Probleme aber ungelöst bleiben.

Prof. Dr. med. Matthias Kopp, Klinikdirektor und Chefarzt der Universitätsklinik für Kinderheilkunde am Inselspital, hält fest: «Die Kindermedizin ist strukturell unterfinanziert, vor allem ambulant. Wir können Defizite abdecken, aber für innovative Projekte, die den Heilungsprozess integral verbessern würden, fehlt das Geld. Für die finanzielle Unterstützung der Kindermedizin, wie sie vom Kanton gesprochen wurde, bin ich dankbar. Sie ist wichtig und stopft Löcher – aber sie löst nicht das zu Grunde liegende Problem: die Tarifstruktur berücksichtigen nicht die Besonderheiten der Kindermedizin.» Kinderkliniken behandeln immer mehr Kinder mit multiorganischen Problemen und komplexen Erkrankungen, die spezialisiertes Fachwissen erfordern. Gleichzeitig verschärft sich der Mangel an Kinderärztinnen und Kinderärzten. 

Sieben Minuten, die ein ganzes Team brauchen

Als Jorin geboren wurde, blieben sieben Minuten für den Notfallkaiserschnitt. Mitten in der Nacht stand ein interdisziplinäres Team bereit – Ärzte mit unterschiedlichen Spezialisierungen, Pflegende, alle synchron. Dr. Fabian Keller, Oberarzt Neonatologie an der Kinderklink des Inselspitals, erläuterte: Die Teams seien klein, die Bereitschaft müsse rund um die Uhr gewährleistet sein – und alles könne sich jederzeit komplett ändern, weil jeder Fall sehr individuell sei. Deshalb fühlt sich die Arbeit oft an wie ein Leben im Hamsterrad, während gleichzeitig die Familien möglichst viel Zeit und Zuwendung bräuchten.

Jorins Eltern berichteten vom riesigen Betreuungsaufwand auch nach dem Spitalaufenthalt. Die Pflege des Tracheostomas mussten sie lange üben, bevor ihr Sohn nach zehn Monaten nach Hause durfte – als erstes Kind in der Schweiz mit einer solchen invasiven Beatmung. Dass Eltern vielfach selbst Aspekte der Nachbetreuung übernehmen müssen, kann sehr belastend sein – in einer Zeit, in der das Kind enorm fragil ist. Wenn die Spitex nicht unterstützen kann, bleiben Kinder im Spital, die aus medizinischer Sicht eigentlich nach Hause könnten.

Immer auf Abruf, Tag und Nacht

Viele Fachpersonen in der Kindermedizin sind stets auf Abruf und decken mit übergrossem persönlichem Engagement ab, was das System nicht vorsieht. PD Dr. Carmen Casaulta, behandelnde Ärztin von Jorin, sagt wie selbstverständlich: «Technisch gesehen ist das nicht schwierig: Ich schalte einfach mein Telefon nicht aus und bin immer erreichbar, wenn die Familie meine Unterstützung braucht.» Sie räumt ein, dass sie nicht wisse, wie dies im aktuellen System anders gelöst werden könne.

Bestmögliche Kindermedizin

Prof. Kopp formulierte eine klare Vision: «Wir wollen die bestmögliche Kindermedizin für alle Kinder. Eine kinderfreundliche Schweiz ist keine Utopie – sie ist eine gesellschaftliche Verpflichtung.» Er forderte: «Damit wir kranke Kinder und ihre Familien auch in Zukunft ganzheitlich und auf exzellentem medizinischem Niveau versorgen können, braucht es auf politischer Ebene klare Prioritäten: Kindermedizin muss gestärkt werden, Versorgungsstrukturen ausgebaut und die interdisziplinäre Zusammenarbeit langfristig gesichert und finanziert werden. Kindergesundheit und Kindeswohl dürfen nicht hintangestellt werden, denn sie sind die Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft.»

Der Klinikdirektor dankte den Eltern, dem Team der Kinderklinik für das enorme Engagement und der Stiftung KinderInsel Bern: «Ohne euch wären die Wände grau und die Aussicht trübe.»

Ein Triumph – und ein Auftrag

Jorins Geschichte ist ein Triumph der modernen Medizin und des unermüdlichen Engagements vieler Menschen. Doch sie ist auch ein Weckruf: Was bei ihm gelang, war nur möglich, weil Fachpersonen bereit waren, weit über das Vorgesehene hinauszugehen. Wie lange noch ist das tragbar?

Am Ende blieben nicht nur bewegende Geschichten, sondern auch konkrete Forderungen: ausreichende Ressourcen, stationäre und ambulante Settings mit Strukturen, die funktionieren. Die Botschaft war unmissverständlich: Die Kindermedizin braucht nicht nur Applaus, sondern politischen Willen und finanzielle Mittel. Jetzt.

Impressionen der Podiumsdiskussion «Kindermedizin am Limit»

Gastgeberin Nicole Loeb begrüsst die Gäste im neuen Classroom

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